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Wo wir in Bezug auf die Leitzinsen an sich stehen, weiss jeder: immer noch oben. Aber in diesem Beitrag soll es um die Frage gehen, wie sich die aktuelle Gesamtsituation in Bezug auf anstehende Senkungen darstellt und womit man rechnen könnte, wenn sie beginnen. Denn die simple Regel „Zinsen runter, Kurse rauf“ greift definitiv zu kurz.
Wann sinken denn nun endlich die Leitzinsen, jetzt, wo wir Inflationsraten sehen, die ziemlich nahe an der Zielzone von um die zwei Prozent liegen? Und wie würden die Wirtschaft und die Aktienmärkte dann reagieren? Fragen, zu denen man nur Vermutungen anstellen kann, das aber tut derzeit wohl jeder. Denn natürlich würde man gerne wissen, was sich hinter diesem steten Nebel der Ungewissheit verbirgt, um sicher sein zu können, mit Trading-Entscheidungen, die man heute trifft, morgen richtig zu liegen. Aber wie immer an der Börse ist das eben nicht so einfach.
Wo bleibt die Planungssicherheit?
Natürlich wollen die Anleger von den Notenbanken wissen, wann die Inflation besiegt ist, ab wann die Leitzinsen gesenkt werden und wie schnell und weit es dann nach unten geht. Und letztlich geht es jedem Unternehmen und Verbraucher nicht anders. Lohnt es, mit Finanzierungen zu warten? Oder zieht sich das alles so lange hin, dass man alles, was in den nächsten ein, zwei Jahren fällig ist, genauso gut gleich kaufen oder angehen kann?
Teure Kredite und teure Hypotheken bremsen die Wirtschaft. Und hohe Anleiherenditen sind eine lukratives Investment, wenn die Zinsen dann bald sinken: Kein Wunder, dass die Anleger angespannt in den Startlöchern stehen … und bereits einen Frühstart hingelegt haben, als man im vergangenen Herbst begann, auf eine schnelle, weitreichende Zinssenkungsserie ab März zu setzen.
Nicht, weil die grossen Notenbanken das behauptet hätten. Nicht, weil es im Herbst klare Belege dafür gegeben hätte, dass die Inflation besiegt oder zumindest so unter Kontrolle wäre, dass EZB, US-Notenbank („Fed“), die Bank of England und andere mit Zinssenkungen hätten beginnen können. Sondern weil man es wollte. Und weil die ersten, spekulativen Käufe eben wegen dieses Wunsches nach der Rückkehr des „billigen Geldes“ als Beweis dafür fehlinterpretiert wurden, dass es genauso kommt wie behauptet. Der folgende Chart der Renditen am US-Anleihemarkt zeigt: Das war ein Fehlstart. Und jetzt? Klappt es beim zweiten Anlauf? Wieso können die Notenbanken denn nicht einigermassen für Planungssicherheit sorgen?
Risikofaktoren „letzte Meile“ und „zweite Welle“
Weil sie nun einmal nicht hellsehen können und es klugerweise im Gegensatz zu den „Fehlstart-Tradern“ auch gar nicht erst versuchen. Schliesslich ist die Preisentwicklung von Faktoren abhängig, die die Notenbanker weder vorhersehen noch beeinflussen können. Und das sind zudem nicht gerade wenige:
Wie werden sich die Verbraucher verhalten? Je mehr der Konsum in die Knie geht, desto geringer ist das Risiko, dass die Unternehmen die Preise weiter anheben können.
Wie entwickeln sich die Rohstoffpreise? Gehen Benzin, Heizöl, Diesel, Gas und Strom durch die Decke, bremst das zwar den Konsum, weil den Verbrauchern weniger Geld für andere Dinge bleibt, es erhöht aber auch die Kosten der Produktion und sorgt damit für Inflationsdruck.
Wie entwickelt sich das Lohnniveau? Können Gewerkschaften massive Lohnsteigerungen durchsetzen, die zum einen den Konsum und damit die Preise befeuern und zugleich die Kosten der Unternehmen erhöhen, so dass diese das auf die Preise umlegen müssen?
Was treibt die Politik? Werden Subventionierungen ungeschickt nach dem Giesskannenprinzip vorgenommen, so dass, wer zu wenig hat, danach immer noch zu wenig hat, diejenigen aber, die sowieso über die Löhne vollen inflationsausgleich erhielten, dadurch noch mehr haben, was den Konsum zwar ungleicher verteilt, aber insgesamt anschiebt und die Unternehmen das nutzen, um die Preise anzuheben?
Die Notenbanken können bei all diesen Dingen nur beobachten. Zwar hört man gerade seitens der EZB immer wieder Hinweise und Apelle, die Sache vernünftig anzugehen, aber wie zu erwarten schalten da Politik, Unternehmen und Verbraucher durch die Bank auf Durchzug. Der Effekt:
Die Notenbanken müssen Risiken einkalkulieren. Sie wissen, dass der aktuelle Level zwar vorgaukelt, dass die Zwei-Prozent-Zielzone, die man bei den Notenbanken allgemein als wünschenswert ansieht, so gut wie erreicht wäre. Aber das letzte Stück, die sogenannte „letzte Meile“, ist meist die schwerste.
Und was bei der Betrachtung der reinen Jahresrate der Inflation harmlos wirkt, ist es eben nicht, die Preise stiegen ja immer weiter, wie die folgende Grafik der harmonisierten (Eurozone-einheitlichen) Preisentwicklung in einer nominalen Darstellung zeigt. Das darf so nicht bleiben. Und wegen des vorgenannten „Durchzug-Verhaltens“ der Beteiligten bleiben die Notenbanken zu Recht vorsichtig.
Denn eine nicht voll absolvierte „letzte Meile“ kann ganz leicht dazu führen, dass die Teuerung die zweite Luft bekommt und erneut aus dem Ruder läuft … und dann müsste man die Zinsen noch höher setzen. Und das, obwohl man weiss, dass der volle Effekt der aktuell hohen Leitzinslevels noch gar nicht eingetreten ist.
Dass das alles nicht so einfach ist, liesse sich an dem „schlauen“ Tipp des Internationalen Währungsfonds (IWF) zum Thema ablesen: Die Geldpolitik in Europa dürfe weder zu schnell noch zu spät gelockert werden, riet der IWF Ende letzter Woche. Ha!
USA: Warum eigentlich senken?
Dass die Konjunktur weder in Europa noch in den USA in eine Rezession gekippt ist, in den USA laut offizieller BIP-Daten sogar so stark ist, als wären die Leitzinsen niedrig, liegt eben daran: Dass dieser Effekt, den hohe Leitzinsen und teure Kredite und Hypotheken normalerweise haben sollten, vor allem in den USA nicht bzw. noch nicht gegriffen hat. Wieso nicht?
Weil viele einfach so weitermachen wie bisher und auf Kredit leben. Warum das so ist, kann ich nicht sicher sagen, sondern nur aus persönlichen Beobachtungen ableiten. Ich kenne Menschen, die haben noch schnell fünfstellige Kredite aufgenommen, als absehbar wurde, dass die Kreditzinsen steigen werden … ohne dass sie das Geld wirklich gebraucht hätten! Ich kenne ebenfalls Menschen, die sich beim Möbel-, Auto- und sogar Hauskauf auf Pump nicht an der Gesamtsumme orientieren, die sie das inklusive Zinsen am Ende kostet, sondern an der Höhe der monatlichen Rate. Ist die bezahlbar, wird auf Pump gekauft, egal, wie viel länger man dann nach hinten hinaus zahlen muss als früher.
Wieso die alle nicht auf mich gehört haben? Sicher, ich habe versucht, allzu Dummes zu stoppen, aber: Da griff das gleiche Phänomen wie bei den Notenbanken: Durchzug, Man will halt nicht hören, was dem, was man will, widersprechen würde.
Aber würden die Leitzinsen noch ein, zwei Jahre hoch bleiben, dann würden die dann zahlreicher werdenden Refinanzierungen von Raten- und vor allem Hauskrediten zu weit höheren Zinsen brutale Auswirkungen auf die Konjunktur haben. Denn die Gläubiger würden bei einem Hypothekenkredit wohl kaum zulassen, dass jemand, der ohnehin noch 20 Jahre zahlen müsste, dann 30 Jahre zahlt, sondern die Raten hochschrauben. Ausserdem müssen Unternehmen und Regierungen dann unangenehm lange viel höhere Anleihezinsen bezahlen, wenn sie am Kapitalmarkt Geld aufnehmen müssen. Über kurz oder lang kommt der „Killer-Effekt“ hoher Zinsen also auf jeden Fall. Nur für den Moment nicht, was zu der Frage führt, die US-Notenbankmitglied Kashkari Anfang April in den Raum gestellt hatte:
Warum sollte die „Fed“ die Leitzinsen denn überhaupt senken, wenn die Wirtschaft stark bleibt? Dieser Gedanke mag Anlegern skandalös erscheinen, aber Kashkari hat ja durchaus Recht. Denn was passiert denn, wenn man jetzt die Leitzinsen senkt, während so viele US-Verbraucher so tun, als wäre alles wie immer? Würden sie dann nicht noch mehr konsumieren, die Preise dadurch wieder befeuern, die Bemühungen der Vorjahre ruinieren und das Risiko einer zweiten Inflationswelle steigern, wie es sie in den USA Ende der Siebzigerjahre gab, siehe die folgende Grafik?
Eurozone: Juni als Startpunkt wahrscheinlich, aber …
Gut möglich also, dass die US-Notenbank noch eine Zeit lang abwartet, bis sie erste Senkungen riskiert. In der Eurozone sieht die Sache anders aus. Und richtigerweise betonte EZB-Chefin Lagarde im Rahmen der letzten EZB-Sitzung, dass man nicht von den Entscheidungen der US-Notenbank abhängig sei. Hier ist das Wachstum, nicht zuletzt wegen Deutschland als Klotz am Bein, kaum noch vorhanden. Zudem lag die Jahresrate der Verbraucherpreise hier im März bei 2,4 Prozent, in den USA bei 3,5 Prozent. Man wäre also zum einen näher dran an der Zielzone der Teuerung, zum anderen wirken die Verbraucher in Europa weitaus weniger zügellos als in den USA. Das Problem ist:
Da die EZB feststellen durfte, dass niemand ihre völlig vernünftigen Ratschläge beachtet hat, muss sie einkalkulieren, dass Politik, Unternehmen und Verbraucher umgehend unvernünftig reagieren, wenn sie auch nur andeutet, dass einer durchaus gut möglichen, ersten Leitzinssenkung in der nächsten Sitzung Anfang Juni automatisch eine Serie weiterer Senkungen folgen werde. Daher hatte Bundesbank-Chef und EZB-Ratsmitglied Nagel zuletzt zu Recht betont: Während eine Zinssenkung im Juni angemessen erscheint, wären Diskussionen über folgende Massnahmen vorschnell.
Ich würde derzeit vermuten, dass die EZB im Juni einen ersten Schritt um 0,25 Prozent, vielleicht sogar um 0,5 Prozent vornimmt und dann mehrere Monate beobachtet, was daraufhin passiert. Und ich würde mich nicht wundern, wenn dann längere Zeit nichts mehr passiert. Denn die Sache muss nicht nur wegen des Risikos, dass schnelle Zinssenkungen dazu führen, dass die zweite Inflationselle entsteht, mit allergrösster Vorsicht angegangen werden:
Es gibt ja auch noch das Rezessionsrisiko durch Zinssenkungen. Wie belieben, mag mancher fragen, das ist doch unsinnig? Nein, ist es nicht, denn:
Was noch viele nicht realisieren (wollen?): der „Aufschiebe-Effekt“
Was werden Sie tun, wenn die Notenbanken den Leitzins um ein viertel oder halbes Prozent gesenkt hat? Werden Sie, wenn damit fünf bzw. zehn Prozent des vorherigen Anstiegs der Leitzinsen zurückgenommen wurden, losstürmen und all das kaufen, was Sie sich vorher wegen der teuren Kredite verkniffen haben? Nein, so dumm sind nur wenige. Natürlich werden Sie abwarten, bis die Leitzinsen wirklich nennenswert niedriger liegen, sprich die Zinsen mindestens zwei, idealerweise zweieinhalb Prozent herunter gekommen sind und im Bereich 2,0 bis 2,5 Prozent liegen. Denn da könnte man unterstellen, dass ein Level erreicht ist, den die Notenbanken, wenn die Lage es erlaubt, beibehalten werden.
Dann erst lohnt es, wieder neue Kredite aufzunehmen und grössere Anschaffungen zu tätigen, die einer Finanzierung bedürfen. Bis dahin würden Sie abwarten, wenn es irgend geht, oder? Nun, gehen Sie besser davon aus, dass andere genauso logisch denken. Und das bedeutet:
Wenn die Zinssenkungen erst einmal beginnen, besteht das Risiko, dass die Konjunktur erst einmal massiv in die Knie geht. Das zwingt die Notenbanken zwar, danach schnell weiterzumachen, um diesen sogenannten „Aufschiebe-Effekt“ so kurz wie möglich zu halten. Aber wir reden hier trotz allem von einer Zeitspanne, die allemal ein Jahr dauern kann. Wer das erkennt, dürfte hinsichtlich einer Zinssenkungs-Hausse am Aktienmarkt wohl skeptisch sein, zumal:
Wenn wir uns ansehen, wie deutlich der Anleihemarkt auf das Platzen der ersten Zinssenkungs-Hoffnungsblase reagierte und wie wenig die Aktien im Vergleich nachgegeben haben, wie wir im vorstehenden Chart sehen, der das Kursbarometer zehnjähriger Bundesanleihen Bund Future mit dem DAX in Relation setzt, wird klar:
Eigentlich ist die Zinssenkungs-Hausse am Aktienmarkt ja bereits gelaufen und noch grossenteils in den Kursen drin. Allzu viel Luft für Käufe, die etwas feiern, das man längst vorweggenommen hat, ist da nicht. Rational betrachtet zumindest. Da der Aktienmarkt jedoch höchst selten rational ist, würde mich da nichts überraschen. Schauen wir mal, noch ist ja nicht Juni!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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