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Dass viele Medien stur versuchen, Konjunkturdaten und Statements mit dem Kursverhalten von Indizes wie dem Euro Stoxx 50 zu koppeln, obwohl es den „homo oeconomicus“, der so handeln würde, nicht gibt, ist problematisch. Bewegt werden die Kurse fast immer von anderen Motiven.
Irgendwas kann da ja wohl nicht stimmen. Erst heisst es, die USA rutschen in die Rezession, weil gerade einmal zwei Daten, nämlich die vom Arbeitsmarkt und den Einkaufsmanagern vom Juli, richtig schlecht ausfielen. Aber all die anderen schwachen Daten zuvor, die schienen keinen gestört zu haben. Und dass der europäische Leitindex Euro Stoxx 50 mit in die Tiefe gerissen wird, wirkt zwar einigermassen nachvollziehbar, aber zwingend war das nicht, immerhin ist die konjunkturelle Situation hier eine andere.
Aber dann ist die Krise auf einmal abgeblasen, die propagierten „Not-Zinssenkungen“ der US-Notenbank nicht mehr vonnöten, weil nur eine einzige Zahl, nämlich der Einzelhandelsumsatz im Juli, besser ausgefallen war? Im Ernst? Und was war mit den schlechter als avisiert ausgefallenen Konjunkturindizes der regionalen US-Notenbanken von New York und Philadelphia, die normalerweise als wichtig erachtet werden? Mit der Industrieproduktion, die nicht nur im Juli schwächer war als erwartet, sondern bei der auch der Juni deutlich nach unten korrigiert wurde? Oder das von der Uni-Michigan ermittelte US-Verbrauchervertrauen, bei dem die Beurteilung der aktuellen Lage unerwartet negativ ausfiel, so schlecht wie seit Anfang 2023 nicht mehr … alles für die Börse aktuell irrelevant?
Dass das wirklich viele glauben, kann einem keiner erzählen. Vor allem nicht, wenn zugleich an der Terminbörse eine grandiose Chance bestand, die überrumpelten Trader zur am 16. August vollzogenen Abrechnung gleich zweimal auf dem falschen Fuss zu erwischen, zuerst mit einem unerwarteten Kursrutsch und dann mit einer unerwarteten Rallye.
Der US-Notenbankchef hat nichts unerwartet Positives verkündet
Trotzdem hacken viele medial weiter auf diesen gut ausgefallenen Einzelhandelsdaten herum, als wären sie die einzig relevante Konjunkturzahl. Und ignorieren, das noch obendrein, dass ein zu kräftiger Konsum ja eigentlich unerfreulich für die Inflation wäre, die für die US-Notenbank ein Problem wäre. Wobei das Canceln der Rezessionsrisiken und das Beibehalten der Erwartung kräftiger Zinssenkungen bei einer bislang noch klar über der Zielzone liegenden Inflation – vor allem in den USA – ja ohnehin nicht zusammenpassen.
Ha, mag da mancher einwenden, das sieht die US-Notenbank aber anders. Tut sie das? Als US-Notenbankchef Powell am Freitag im Zuge des Notenbanker-Treffens in Jackson Hole sagte, dass es Zeit sei, die Geldpolitik anzupassen, machte er damit deutlich, dass man seitens der US-Notenbanker ein Umfeld sieht, in dem man mit Zinssenkungen beginnen könne.
Er sagte nicht, dass die US-Leitzinsen ab jetzt wie ein Strich und in grossen Schritten nach unten gefahren werden. Es werde, richtigerweise und wie immer so kommuniziert, von den zukünftigen Konjunkturdaten abhängen, wie man da konkret vorgeht. Und siehe der vorherige Absatz: Wir haben ein nur mässiges Rezessionsrisiko und eine noch zu hohe Inflation, so dass man da, solange sich das nicht ändert, höchst langsam und behutsam vorgehen muss.
Am Aktienmarkt aber tut man gerade … wie seit Monaten … so, als würde die Zeit des billigen Geldes, in der immens viel mehr Geld in Konsum und Aktien fliessen kann, unmittelbar bevorstehen. Obwohl faktisch nichts für ein solches „Goldilocks-Szenario“ spricht, sondern der Zinssenkungsprozess Jahre dauern kann und vermutlich auf halbem Weg bei einem „neutralen Zins“ endet. Wie kann es sein, dass alle das glauben? Tatsächlich muss man die Frage anders stellen:
Nein, es gibt ihn nicht, diesen „homo oeconomicus“!
Wer glaubt denn, dass alle das glauben? Ist der auf einmal an der Börse aktuell wieder dynamisch aufwärts laufende Euro Stoxx 50 denn der Beleg dafür? Das ist er nicht.
Niemand kann den Marktteilnehmern in die Köpfe schauen, niemand weiss also wirklich sicher, was sie zu ihren Aktionen motiviert. Das weiss man spätestens, seit die Idee der Volkswirte aus früheren Jahrzehnten, dass alle alles wissen können und deswegen auch immer rational entlang dieses Wissens handeln, ein ums andere Mal durch scheinbar unlogische, bisweilen sogar absurde Impulse widerlegt wurde. Den „homo oeconomicus“ gibt es nicht. Sie sind es nicht, ich bin es ebenso wenig. Wenn man sich fragt, was den Euro Stoxx 50 und die anderen grossen Indizes an den Aktienmärkten in Europa und den USA wirklich gerade antreibt, tut man daher gut daran, a) einzelne Daten als explizite Auslöser zu vergessen und b) sich mal zu fragen, warum man selbst bei seinen Trades etwas tut oder lässt.
Mir beispielsweise waren diese Einzelhandelsdaten zwar nicht egal, aber ich habe sie ins Gesamtbild aller Daten eingefügt und das wiederum als einen Teil meiner Lagebeurteilung genutzt. Der andere Teil ist, was wirklich gerade passiert: der Trend, die Charttechnik, die markttechnischen Indikatoren, das Sentiment. Und so handeln nicht nur zwei, drei andere. So handeln die meisten.
Denken wir an die vielen das Geschehen entscheidend mitbestimmenden Handelsprogramme, an die rein technisch agierenden Trader, die Entscheider bei den Hedgefonds: Sie agieren alle stur entlang der Trends. Sicher, die vielen wenig erfahrenen Anleger, die das Geld und damit den „Treibstoff“ für all diese Akteure liefern, agieren oft emotional. Aber auch sie sehen sich an, was die Kurse machen und nicht irgendein „müsste eigentlich“ in Sachen Konjunkturdaten, die die meisten ja auch gar nicht interpretieren können und wollen.
Und wenn wir dann noch mit einbeziehen, dass das Gros der „Privaten“ fast immer nur auf steigende Kurse setzt, erklärt sich das, was der Euro Stoxx 50 da treibt, weitaus besser als mit der wackligen Krücke einer einzigen über den Prognosen ausgefallenen Konjunkturzahl aus den USA, mit der man das Rezessionsrisiko wegreden, schnelle, weitreichende Zinssenkungen aber als sicher beibehalten will.
Zumal man sich ja immer fragen darf, wieso die Euro-Indizes so sklavisch hinter den US-Indizes herlaufen müssen, obwohl das, was in den USA passiert, nicht 1:1 auf die Eurozone übertragbar ist. Aber das ist ein anderes Thema, zurück zum Index: Was treibt er denn gerade konkret, der Euro Stoxx 50?
Die Chart- und Markttechnik schufen die Basis für die Aufwärtswende, nicht US-Konjunkturdaten
Wir sehen einen Euro Stoxx 50, der genau da drehte, wo er drehen musste, um einer solchen Rallye den Boden zu bereiten. Am 5. August drehte er im Bereich des Hochs vom Sommer 2023 nach oben und verteidigte dann auf Schlusskursbasis die Unterstützungszone 4.569/4.593 Punkte. Zugleich war der Index markttechnisch überverkauft, der RSI-Indikator hatte erstmals in diesem Jahr die überverkaufte Zone erreicht. Dass da Trader, die Short waren, ihre Gewinne mitnahmen und leer verkaufte Aktien eindeckten, was die Kurse zwangsläufig höher zieht, wundert nicht.
Dann kam die Terminmarkt-Abrechnung näher, eine grandiose Chance, all diejenigen, die zur Absicherung Put-Optionen gekauft hatten, dies- wie jenseits des Atlantiks ins Leere laufen zu lassen. Das war verbunden mit einem „Gap-Close“ nach dem anderen und der Rückeroberung von Chartlinien wie der 200-Tage-Linie. Die technisch agierenden Trader und Handelssysteme waren zwangsläufig Käufer. Aber nur die Handelsprogramme denken nicht. Hedgefonds, technische Trader, diese Klientel weiss ganz genau, dass diese Rallye kein Fundament seitens der Rahmenbedingungen hat. Aber!
Das ist ja kein Grund, um einfach mitten in einem dynamischen Impuls auszusteigen und auf die Short-Seite zu wechseln. Man liefe Gefahr, von denen, die weiter kaufen, überrollt zu werden und so doppelt zu verlieren: entgangene Long-Gewinne und Verluste mit den Short-Trades. Also wartet man … worauf?
Es läuft, solange es läuft
Dass die Käufe abebben, dass man erkennt, dass dem Markt die Käufer ausgehen. Darauf, dass Widerstände nicht mehr problemlos überboten oder schnell wieder unterschritten werden. Darauf, dass die Markttechnik und/oder das Sentiment, sprich die Stimmung, verdächtig heiss laufen. Passiert das nicht, geht es einfach weiter, bis die Luft raus ist. Daher ist dieser so banal wirkende Spruch letztlich eine sicher simple, aber doch zutreffende Aussage: Solange es läuft, läuft’s.
Aber wehe, wenn der Schwung raus ist und die Kurse unter bestimmte Levels rutschen, ab denen die Käufer eigentlich zugreifen müssten, aber durch Abwesenheit glänzen. Dann springt dieser grosse Kreis an jetzt noch bullischen Akteuren ganz schnell vom Zug, eben weil sie wissen, dass der ganz am Ende sowieso gegen eine Felswand fahren würde, weil die Rahmenbedingungen nicht passen.
Derzeit würde ich vermuten, dass die jetzt leicht überbotene Widerstandszone 4.820/4.884 Punkte und die knapp darunter, bei 4.791 Zählern, verlaufende 200-Tage-Linie als Lackmustest für die Bullen dienen könnte, d.h. ein Rücksetzer muss dort aufgefangen werden, sonst könnte man schnell konstatieren: Jetzt läuft’s nicht mehr.
Aber wie gesagt: Ob eine Erwartung realistisch ist, spielt keine Rolle, solange sie gut klingt und genug mitmachen. Und Letzteres ist ja eine Art zeitweiliges Perpetuum Mobile: Eine kräftige Bewegung zieht immer mehr Käufer an und hält sich dadurch vorerst auch ohne Kontakt zur Realität am Leben. Und noch ist das beim Euro Stoxx 50 der Fall, da mögen all diejenigen, die versuchen, die Sache strikt logisch anzugehen, den Kopf schütteln, wie sie wollen: Noch läuft’s!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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