Aktien sind an der Börse aktuell noch spottbillig, heisst es oft. Verblüffend, wie soll das wohl mitten in einer schwierigen Phase der Weltwirtschaft, mit Aktienindizes auf Rekordlevels, möglich sein? Aber solche Sprüche kommen natürlich bei vielen Anlegern gut an, verheissen sie doch weitere, grosse Gewinne fürs Depot. Da haken die meisten gar nicht erst genauer nach. Das sollte man aber!
Wenn man das mal über die Jahrzehnte verfolgt, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass so mancher Börsenexperte immer dann besonders laut trommelt und Aktien als „billig“ anpreist, wenn die Kurse bereits jahrelang gestiegen sind und der Hausse die Argumente und das Momentum ausgehen. Dabei richten sich solche Aussagen nicht an diejenigen, die schon lange dabei sind, sondern an noch unerfahrene Anleger und vor allem an solche, die es noch werden sollen. Ziel: Die Hausse soll weitergehen, neue Käufer sollen verhindern, dass ein bereits überhitzter Markt kippt. Das klappt recht oft für recht lange Zeit. Auf Dauer aber endet es aber doch mit einem bösen Erwachen.
Die Finanzindustrie braucht immer „frisches“ Anlegergeld
Eines sollte man nicht vergessen: Banken müssen Geld verdienen. Und wenn Anleger fleissig Aktien kaufen, springt eben für die Bank etwas dabei heraus. Oder für die Fondsgesellschaft, den ETF, den Börsenbetreiber. Und bei diesen grossen Adressen weiss man eben, dass die meisten Marktteilnehmer nicht flexibel traden, sondern kaufen und dabei bleiben, ggf. mal aussteigen und wieder zurückkaufen, aber nicht auf fallende Kurse setzen.
Würden sehr viele Investoren Trends in beide Richtungen handeln, konsequent von chart- und markttechnischen Indikationen geleitet von Long auf Short und wieder zurück wechseln, wären solche Aussagen wie „Aktien sind billig“ nicht hilfreich. So aber funktionieren diese Aussagen seit Jahrzehnten immer wieder und locken zum Kauf. Nur sind die Argumente, die dafür herhalten sollen, dieses günstige Niveau zu belegen, oft ein wenig problematisch … wenn man es freundlich ausdrücken möchte.
Aber wie will man denn eine bereits altersschwach und/oder ausgereizt wirkende Hausse mit Argumenten neu beleben, wenn doch auch ein Neueinsteiger anhand eines Charts sehen kann, wie immens die Kurse bereits gestiegen sind? Da müsste doch jeder skeptisch werden … oder?
Nein, nicht unbedingt. Zum einen nicht, weil tatsächlich viele einem Herdentrieb unterliegen und gerade weil etwas schon lange steigt den Eindruck haben, dass es deswegen noch weiter steigen wird. Das ist nicht logisch, aber emotional durchaus nachvollziehbar. Zum anderen nicht, weil diese Aussagen gezielt an die Gier appellieren, die sich die darauf anspringenden Anleger indes nie selbst eingestehen würden. Was die Sache umso erfolgversprechender macht.
Erzähle ihnen, was sie hören wollen, und sie folgen dir
Es läuft tatsächlich so: Erzähle den Menschen, was sie von der Börse aktell wollen und sie folgen dir. Das klappt in der Politik seit eh und je, daher darf es nicht wundern, dass es ebenso tadellos funktioniert, wenn es um Geld geht. Und da eben der ganz überwiegende Teil derjenigen, die ein Aktiendepot haben, nur Hausse „kann“ bzw. will, sind Leute, die vor Risiken warnen, ebenso gut gelitten wie ein Magengeschwür; die Hausse-Propheten, die stets weiter steigende Kurse an der Börse weissagen, sind hingegen äusserst beliebt.
Was diesen Perma-Bullen mit ihrem Argument eines stets zum niederknien billigen Aktienmarkts zusätzlich in die Karten spielt ist, dass viele Anleger fatale Fehleinschätzungen a la Hausse leichter verzeihen als anders herum. Denn man fühlt sich mit denen, die die ewige Hausse versprachen, als in einem Boot sitzend. Und wie leicht ist es dann, der „Börse“ an sich die Schuld zu geben, wenn es statt immer weiter nach oben auf einmal dramatisch abwärts geht. Da kommt dann immer das Argument: Es konnte ja niemand vorhersehen, dass das Ereignis X oder Y auf einmal die Situation auf den Kopf gestellt hat. Nun, das kann man nie, weshalb solche Hausse-Prognosen auch grundsätzlich fragwürdig sind … aber das ist ein anderes Thema.
Dabei sollte ich vielleicht eines klarstellen, bevor ich mich mit den drei typischen Argumenten auseinandersetze, die ins Feld geführt werden um zu „beweisen“, das Aktien billig seien: Über die Jahre hinweg betrachtet sind Aktien in der Tat bisweilen “billig“ und lange Zeit zumindest günstig bis fair bewertet und hätten deswegen Aufwärtspotenzial. Vor allem natürlich nach starken Abwärtsbewegungen. Aber wenn erst nach einer Super-Hausse an der Börse das Wort „billig“ fällt, sollte man eben genauer hinschauen. Also, welche Argumente werden in der Regel aufgefahren, wenn es darum geht, den Aktienmarkt insgesamt oder einzelne Aktien als „billig“ darzustellen?
Im Verhältnis zu Anleihen sind Aktien billig?
Die in den meisten Laufzeiten unter null gesunkenen Renditen am Anleihemarkt haben an der börse aktuell einen immensen Exodus von Anlegern in Richtung Aktienmarkt ausgelöst. Wenn es keine Zinsen mehr gibt, scheinen Aktien die einzige logische Alternative zu sein. Denn dort sind die Gewinne immens, hinzukommt, dass ja auch Aktien sozusagen einen „Zins“ in Form der Dividende abwerfen. Und die liegt, wie der folgende Chart zeigt, weit über der Rendite deutscher Bundesanleihen. Soweit ist das alles richtig. Doch Aktien deswegen als „billiger“ als Anleihen zu bezeichnen, ist eine problematische Sache.

Richtiger wäre, Aktien als „gewinnträchtiger“ zu bezeichnen, was indes den Haken hat, dass diese Formulierung impliziert, dass es so sein kann, aber eben nicht muss. Und genau so ist es ja auch. Ja, Aktien haben, was die Kursentwicklung oder die Gesamtrendite (Kursentwicklung + Zins bzw. Kursentwicklung + Dividende) angeht, Anleihen meilenweit hinter sich gelassen. Und das ist in den letzten Jahrzehnten fast ausnahmslos der Fall gewesen. Aber der folgende Chart zeigt eben auch, dass das Risiko der Aktien höher ist, kurz: Das kann eben auch mal dramatisch schiefgehen, wenn man zum falschen Zeitpunkt ein- und aussteigt. So beispielsweise in der Zeit zwischen Mitte 2015 und Mitte 2016, als man mit einer Anleihe bei Weitem besser gefahren wäre. Und Dividenden sind, im Gegensatz zum Zinskupon einer Anleihe, eben nicht garantiert.

Letztlich sind Anleihen und Aktien zwei derart verschiedene Paar Schuhe, dass man sie nicht wirklich miteinander vergleichen sollte. Entscheidend ist, dass der Aktienmarkt weitaus höhere Gewinnchancen bietet, die aber eben auch, wie bei allem, mit höheren Risiken erkauft werden. „Billiger“ sind Aktien deswegen aber nicht.
Unsummen an Sparergeld warten auf Einstiegschancen?
Gerne wird argumentiert, dass die Negativzinsen dazu geführt haben, dass gigantische Summen auf den Konten der Sparer liegen, die in den Aktienmarkt strömen werden. Auch die Geldmenge wird immer wieder ins Feld geführt: Je höher die steigt, desto mehr Geld ist im Umlauf, von dem zwangsläufig einiges in den Aktienmarkt strömen wird. Letzteres ist nicht verkehrt, aber der folgende Chart zeigt:

Das ist vor allem der Fall, solange die Geldmenge steigt. Aktuell hat sie, in der Eurozone im Allgemeinen ebenso wie in Deutschland im Besonderen, die Hochs der letzten Jahrzehnte erreicht. Ob sie noch weiter steigt, wird sich erst zeigen müssen. Und die Hausse-Phasen des Aktienmarkts, hier im Chart die des DAX, laufen eben parallel zum Geldmengenanstieg und stocken meist umgehend, wenn die Ausweitung der Geldmenge endet. Und:
Dass viel Cash auf deutschen Konten herumliegt, mag wohl stimmen. Aber auch, wenn daraus viele das Argument ableiten, die Aktien seien an der Börse aktuell „noch“ billig, weil dieses Geld die Kurse in Kürze immer höher treiben müsse: Das Argument hat keine Substanz.
Denn wer wollte a) zu wissen behaupten, wie viel Geld davon wirklich zur freien Verfügung steht und b) ob die Menschen dieses Geld überhaupt am Aktienmarkt anlegen wollen, nachdem sie es bisher nicht getan haben? Die Tatsache, dass grundsätzlich Geld da wäre mit der Fortsetzung der Hausse zu koppeln, basiert nicht auf Logik. Dieses Argument klingt gut, mehr aber nicht.
Das Kurs/Gewinn-Verhältnis am Aktienmarkt ist niedrig wie selten?
Es sind, das muss man immer wieder dick unterstreichen, beileibe nicht alle Experten, die mit fadenscheinigen Argumenten daherkommen. Im Gegenteil, es sind eher wenige, die derart für die ewige Hausse trommeln. Aber deren Aussagen werden eben gerne gehört und bleiben im Gedächtnis. Eine Analyse, die zu dem Schluss kommt, dass der DAX 2021 mit ein wenig Glück die 15.000 erreichen und bis zum Jahresende halten kann, ist eben nicht so plakativ und damit für den Werbenden effektiv wie „DAX 20.000 ist sicher“.
Für solche weit über dem derzeitigen Niveau liegenden Kursziele wird immer wieder ein nahezu lächerlich niedriges Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV) ins Feld geführt. Da lese ich momentan z.B., dass die Aktien des Dow Jones im Schnitt gerade mal ein KGV von 15 ausweisen, was im Vergleich zu den vergangenen Jahren ungewöhnlich niedrig ist. Dann geht dieser „Experte“ hin und errechnet, dass der Dow Jones bis zum Erreichen eines „fairen“, über Jahre hinweg durchschnittlichen KGV von 22 somit um 46 Prozent steigen muss. Vergleichbares, wenngleich nicht gar so hanebüchen, hört man bisweilen auch für den DAX. Was stimmt an dieser Aussage?
Nichts. Es sei denn, man nennt die Parameter dazu, die zu diesen Zahlen führen. Was aber nie passiert, sonst wäre die Werbeaussage nämlich futsch. Auch so kann man vorgaukeln, dass Aktien an der Börse aktuell spottbillig sind und Anleger zum Einstieg locken. Vor allem solche, die kein Fachwissen haben, womöglich nicht einmal wissen, was ein KGV ist. Sehen wir uns mal an, wo das KGV des Dow Jones derzeit in Wirklichkeit liegt:

Mit 33,19 liegt dieses KGV so hoch wie seit elf Jahren nicht mehr. Und eben nicht bei 15. Wie kommen diese Leute dann darauf, dass es so niedrig sei? Ganz einfach. Was wir in diesem Chart abbilden, ist das KGV auf Basis der tatsächlich gemeldeten Gewinne der im Dow Jones gelisteten Unternehmen. Will man dieses KGV auf „billig“ umlackieren, nimmt man einfach Gewinnprognosen.
Die alleine sind schon überaus fragwürdig, denn man sollte sich fragen, wie ein Analyst imstande sein soll, den Gewinn eines Unternehmens für das gerade erst begonnene Jahr richtig zu schätzen, wenn das Unternehmen selbst sogar bei der Prognose für das laufende Quartal vorsichtig ist! Und das gilt erst Recht, wenn solche Auguren den Gewinn für 2022 oder gar 2023 weissagen. Was sie nicht davon abhält, es zu tun. Und natürlich sehen diese Gewinnprognosen grandios aus. Steigende Gewinne ohne Unterlass, und das satt. Das hatte man für 2020 übrigens auch so gesehen – bis dummerweise Corona kam. Aber das konnte man ja nicht ahnen … siehe oben. Also:
Ein KGV „billig zu rechnen“, indem man einfach irgendwelche Glaskugel-Zahlen für 2023 hernimmt und diesen geschätzten Gewinn dann als Basis benutzt, um ihn mit dem Kursniveau von heute ins Verhältnis zu setzen, ist nicht okay. Wenn man dann auch noch vergisst, das zu erwähnen, ist es noch weit weniger in Ordnung. Aber damit ist der Witz noch nicht zu Ende.
Denn man kommt ja dann daher und sagt, dass dieses angeblich niedrige KGV wieder auf das „Normalniveau“ von 22 steigen werde. Wie? Indem die Kurse entsprechend steigen – so einfach ist das scheinbar. Nur ist auch dieses „Normalniveau“ von 22 eine Irreführung. Sie sehen im vorstehenden Chart: Ja, wenn man über gut 35 Jahre den Durchschnittswert des Dow Jones-KGV errechnet (die grüne Linie), kommt man wirklich auf 22. Aber da sind eben dann die Super-Ausreisser des KGV nach oben mit dabei, die in den Rezessionen Anfang der Neunziger und 2008/2009 aufgetreten sind. Und die sollte man besser nicht mit einrechnen.
Solche Sprünge entstehen, wenn die Gewinne der Unternehmen im Zuge einer Rezession schlagartig wegbrechen, viele der Firmen sogar in die Verlustzone rutschen. Da die Kurse der entsprechenden Aktien nicht so stark einbrechen, explodiert dann das KGV kurzzeitig, bis die Gewinne sich erholen. Solche Ausreisser sind selten und vor allem: Das zieht aktuell nicht, um das ausserhalb dieser Ausreisser derzeit extrem hohe KGV zu rechtfertigen. Denn was ebenso wenig erwähnt wird: Die meisten Dow Jones-Unternehmen haben in der Corona-Krise keinen Gewinn-Crash gesehen, viele von ihnen haben sogar in diesem vergangenen Jahr mehr verdient als je zuvor.
Manche Aktien sind wirklich relativ „billig“
An der Börse geht es um Geld und, was Sie als Investor angeht, erst einmal um ihr eigenes. Das zu schützen und im Idealfall zu vermehren, ist das Ziel. Daran wollen viele mitverdienen, denen es in erster Linie darum geht, dass Sie kaufen und verkaufen und immer mehr Geld investieren. Aber dieser Klientel ist es am Ende egal, ob sie Verluste erleiden.
Börsenlegende André Kostolany hat einmal geschrieben, dass die meisten Menschen sich weitaus mehr Gedanken machen, wenn sie sich ein gebrauchtes Fahrrad kaufen wollen als wenn es um ihre Börseninvestments geht. Das hat sich seit damals nicht geändert. Machen Sie es anders: Hinterfragen Sie, was andere zu wissen glauben, vor allem, wenn es allzu gut klingt!
Manche Aktien liessen sich hier und heute tatsächlich als billig ansehen. Aber das sind niemals diejenigen, die gerade 100 Prozent in vier Wochen gestiegen sind und über die alle reden. Billige Aktien sind dies, sobald alle davon wissen, im Handumdrehen nicht mehr, weil sie dann ja jeder sofort kauft und das den Kurs nach oben treibt. Meist über ein normales, sinnvolles Niveau hinaus hin zu „atemberaubend überzogen“. Billig sind in der Regel die „leisen Aktien“, die Mauerblümchen, die nicht im Rampenlicht stehen, aber deren Unternehmen anständige Dividenden zahlen, die fest in ihrer Branche etabliert sind und eben nur solide und nicht schlagzeilenträchtige Umsatz- und Gewinnsteigerungen vorweisen. Solche Aktien mögen kurzfristig vielleicht langweilig wirken. Aber schauen Sie sich zum Abschluss einmal diesen Chart an, der daran erinnern soll, dass die scheinbar immer billigen Superstars, mit denen die gierigen unter den Anlegern nach den Sternen greifen, eben nicht nur schnell hoch stiegen, sondern auch noch schneller tief fallen können!

Die Phase des Jahres 2000 ist lange her, sicher. Aber vieles erinnert an der Börse aktuell daran, gerade diese wilde Hatz bei den besonders rasant steigenden Aktien. Ich denke, es kann nicht schaden, daran zu denken, dass sich die Geschichte zu wiederholen pflegt, wenn niemand aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. Und heute ist eben eine neue Generation von Anlegern mit dabei, die 2000 noch im Kindergarten war und diese Erfahrung von damals nicht gemacht hat. Denen fällt es leicht zu behaupten, damals sei alles ganz anders gewesen. Aber das war es nicht. Vorsicht und ein wenig Skepsis können also nicht schaden … das konnten sie noch nie!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
*Charts vom 18.2.2021, Chartquelle marketmarker pp4
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