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Auf die Aussage der EZB am vergangenen Donnerstag, dass man mit den Leitzinserhöhungen jetzt vermutlich durch sei, folgte eine kräftige Rallye am Aktienmarkt. Aber kann man diesem Braten trauen? Denn ein womöglich von manchen ignorierter Halbsatz macht deutlich: Die harte Phase für die Wirtschaft könnte jetzt erst beginnen. Hat man das übersehen … oder hatte die Rallye womöglich einen anderen Grund?
Dass die EZB ihre drei Leitzinssätze am Donnerstag noch einmal um 0,25 Prozent anhob, war zwar von manchen zwar nicht erwartet worden. Aber ob der Basis-Leitzins, der sog. Hauptrefinanzierungssatz, jetzt bei 4,25 oder 4,50 Prozent liegt, ist für die Gesamtsituation nicht wirklich entscheidend. Weitaus bedeutsamer war, wie die Notenbank diesen Zinslevel einordnet. Dazu ein Zitat aus dem Statement zur Zinsentscheidung:
„Auf Grundlage seiner aktuellen Beurteilung ist der EZB-Rat der Auffassung, dass die EZB-Leitzinsen ein Niveau erreicht haben, das – wenn es lange genug aufrechterhalten wird – einen erheblichen Beitrag zu einer zeitnahen Rückkehr der Inflation auf den Zielwert leisten wird.“
Das lässt sich so interpretieren, dass die Phase der Zinsanhebungen jetzt vorüber ist. Zumindest, solange nichts passiert, das die Inflation dramatisch befeuern würde. Aber kann das der Grund gewesen sein, durch den die Eurozone-Aktien daraufhin kräftig zulegten und die US-Indizes (obgleich die US-Notenbank erst übermorgen entscheidet und die Sache anders sehen könnte) gleich mit? Das könnte nur dann der Fall gewesen sein, wenn viele auch grosse Akteure sehr kurzsichtig denken und/oder einen Teil dieses Statements nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Und das bezweifle ich.
Es ist immer entscheidend, warum die Zinsen längere Zeit oben bleiben!
Zwar kann man nicht übersehen, dass EZB-Entscheid nebst Kommentierung und der Beginn der Kaufwelle zeitlich genau zusammen liegen, wie der folgende Chart zeigt. Aber haben wir es nicht oft erlebt, dass Notenbank-Entscheidungen oder wichtige Konjunkturdaten nur als „Vehikel“ von Kauf- oder Verkaufswellen dienten, mit denen man solche Bewegungen dann oberflächlich begründet in der Hoffnung, dass dadurch viele Trader auf die Bewegung aufspringen? Das haben wir in der Tat. Und ich sehe einen entscheidenden Grund, warum es sinnvoll wäre, auch diese Rallye dahingehend abzuklopfen, und zwar:

Das Erreichen des Hochs eines Zinsanhebungs-Zyklus ist per se in keiner Weise bullisch, sondern kann sogar bärisch wirken. Und in unserem Fall ist das nicht unwahrscheinlich. Denn es kommt ja sehr darauf an, warum die Notenbanken die Zinsanhebungen beenden und das hohe Leitzinsniveau dann, und genau das war ja von der EZB klar formuliert worden, längere Zeit aufrechterhalten wird.
In den Neunzigerjahren gab es in den USA (die EZB startete erst 1999, daher nehme ich das US-Beispiel) eine mehrjährige Phase, in der die „Fed“ den Leitzins auf einem recht hohen Niveau hielt und jahrelang nur wenig veränderte, die folgende Grafik zeigt diese Zeitspanne. Das war damals für den Aktienmarkt nichts, das ihn gebremst hätte, die zweite Hälfte der Neunziger war für die Wall Street eine sehr gute Zeit. Aber das hatte auch einen Grund, den wir in diesem Chart ebenfalls sehen:

Das Wachstum war und blieb stark. Und die Motivation der „Fed“ war eine andere. Nämlich die, die eigentlich immer die Basis für Zinserhöhungen sein sollte: das Wachstum rechtzeitig so zu bremsen, dass es gar nicht erst zu einer aus dem Ruder laufenden Inflation kommt.
Diesmal ist die Situation jedoch eine andere: Die Inflation ist eben im Vorfeld ausser Kontrolle geraten. Dass das an den Verzerrungen im Wirtschaftsgefüge als Folge der Corona-Problematik lag, entschuldigt zwar, dass die Notenbanken den Leitzins nicht so schnell und früh anhoben, dass die Preise gar nicht erst aus der Bahn geraten. Aber es ändert nichts daran, dass wir jetzt hohe Zinsen haben, um die Inflation loszuwerden und nicht, um sie zu verhindern.
Zins-Plateaus sind normalerweise keine gute Phase für den Aktienmarkt
Dass das verklausulierte Verkünden eines Zinsplateaus, d.h. einer längeren Phase hoher Leitzinsen, kein Grund für Jubel am Aktienmarkt ist, ergibt sich genau daraus. Denn wenn die EZB schreibt, dass die Beibehaltung des jetzt erreichten Levels, der immerhin so hoch ist wie seit 22 Jahren nicht mehr, „einen erheblichen Beitrag zu einer zeitnahen Rückkehr der Inflation auf den Zielwert leisten wird“, meint sie damit erstens mit „zeitnah“ nicht „in Kürze“. Denn immerhin hat die Europäische Zentralbank am Donnerstag zugleich neue Inflationsprognosen vorgelegt und sieht die Teuerung im Jahr 2024 im Schnitt jetzt bei 3,2 Prozent und damit höher als bislang.

Zweitens impliziert diese Aussage einen für die Wirtschaft und den Aktienmarkt negativen Aspekt, den die Anleger eigentlich kennen müssten: Hohe Zinsen wirken erst mit der Zeit und keineswegs sofort. Nur neue Kredite oder die, bei denen die Zinsbindung ausläuft, sind teuer. Erst jetzt, nachdem die inflationsbedingten, das Wachstum stützenden Vorkäufe vorüber sind und man seitens der Verbraucher davon ausgeht, dass die Preise erst einmal hoch bleiben, geht die Anschaffungsneigung zurück. Und solange man damit rechnet, dass sinkende Preise noch nicht in Reichweite sind und das derzeitige Preislevel z.B. bei Autos, Möbeln oder Reisen immens hoch ist, bleiben die Konsumenten mit dem Fuss auf der Bremse … das werden die Ergebnisse des dritten und vierten Quartals bei vielen Bilanzen auch widerspiegeln.
Schon in „normalen“ Phasen, in denen wir nicht mit dieser untypischen Situation einer aus Materialengpässen und Lockdown-Phasen befeuerten Inflation konfrontiert wurden, waren Zinsplateaus keine gute Zeit für den Aktienmarkt, wie die vorstehende Grafik zeigt. Aber jetzt gilt das erst recht. Die „Wirkphase“ der hohen Zinsen hat erst begonnen … und muss weitergehen, bis die Inflation vorbei ist.
Danach könnte sie in Deflation übergehen, dann werden die Notenbanken die Zinsen rasant senken müssen. Aber erst am Ende des Weges, wenn man im Gegenteil zu jetzt davon ausgeht, dass das Tal der Zinssenkungsphase erreicht ist, das Geld wieder „billig“ ist, dann kommt eine gute Zeit für Wirtschaft und Unternehmensgewinne. Wie lange es bis dahin dauert, ist nicht vorhersehbar. Aber auf jeden Fall lange genug, um konstatieren zu können: Das jetzt am Aktienmarkt schon mal vorwegnehmen zu wollen, ist absurd.
Könnte die Rallye einen anderen Grund gehabt haben? Ja, das könnte sie!
Also kann es nicht schaden, nach möglichen anderen Gründen für die Rallye nach der EZB-Entscheidung zu fahnden. Und da wird man schnell fündig. Denn einen Tag später stand ja der „dreifache Hexensabbat“ an, die grosse Abrechnung an der Terminbörse. Ein Termin, an dem extrem viel Geld verdient werden kann. Aber auch verloren, wenn die Kurse so knapp vor der Abrechnung in die für die grossen Spieler falsche Richtung davonlaufen, dass man sich nicht mehr dagegen absichern kann. Liegt da die Basis der Aufwärtsbewegung?

Wenn man sich die Charts von Dow Jones und Euro Stoxx 50 anschaut, liegt es nahe, das zu bejahen. Der Dow war wieder in eine Schlüssel-Supportzone gerutscht und kam bis dahin einfach nicht mehr aus ihr heraus. Eine negative Reaktion auf das Avis der EZB, den Leitzins vorerst hoch zu lassen, hätte diese Zone direkt vor der Abrechnung am Terminmarkt brechen können, das galt es zu verhindern. Dass der Index schon am Freitag während der Abrechnung wieder zurückfiel, ist dabei nicht übrigens gerade ein Signal dafür, dass man sich auf womöglich ähnliche Aussagen der US-Notenbank übermorgen freut.

Und beim Euro Stoxx 50 war die Lage noch brenzliger. Denn der rang um die 200-Tage-Linie, von der er diesmal einfach nicht loskam. Hätte man auf diese EZB-Entscheidung hin eine Abwärtsbewegung gesehen, hätte man das medial natürlich völlig anders kommentiert, etwa mit „EZB droht mit für lange Zeit hohen Leitzinsen, Anleger entsetzt“ oder sonstigen Sprüchen. Es wären Anschluss-Verkäufe zu befürchten gewesen, die den Euro Stoxx 50 ausgerechnet in dem Moment, in dem es für die grossen Akteure am Terminmarkt um Unsummen geht, aus der Handelsspanne nach unten hätten drücken können. So aber wirkte es, als gäbe es keinen Grund zur Unruhe, sondern zur Freude.
Dass sich die Gewinne des Freitags nicht besonders gut halten liessen, sollte jedoch Anlass sein, die Sache im Auge zu behalten. Denn Aspekte, die als bullisch gepriesen werden, ohne es wirklich zu sein, haben gemeinhin keine allzu nachhaltige Auftriebskraft.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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