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Wenn Sie meine täglichen Analysen im LYNX Börsenblick kennen, wissen Sie, dass ich äusserst selten ein Kursziel nenne. Das bedeutet nicht, dass ich nichts von der charttechnischen Analyse halten würde, das Gegenteil ist der Fall. Aber mit Kurszielen sollte man vorsichtig umgehen bzw. genau wissen, womit man es da zu tun hat. Sehen wir uns die Problematik einmal an.
Es geht dabei heute ausschliesslich um charttechnisch basierte Kursziele, nicht um die von Analysten, die ich vergangene Woche als Thema hatte und auch nicht um Fibonacci-Ziele. Letzteres ist eine Disziplin, mit der ich mich aus dem gleichen Grund nie anfreunden konnte, der mich anhält, charttechnische Kursziele zwar zur Kenntnis zu nehmen, aber immer mit Vorsicht zu geniessen. Der da wäre?
Kursziele sind nicht aus sich selbst heraus relevant
Der Grund ist ganz einfach, dass die Kurse nicht von irgendwelchen magischen, unsichtbaren Mächten geleitet werden, sondern von Menschen. Wenn also ein Kursziel relevant sein soll, dann nur, wenn genug Marktteilnehmer es a) wahrnehmen und b) unmittelbar in ihre eigenen Entscheidungen mit einbeziehen. Ist das aber nicht der Fall, ist ein denkbares Kursziel, so markant es für einen selbst auch wirken mag, nur irgendein Kursniveau, das keinen interessiert und somit auch eine Wirkung von genau null hat.
Sich selbst im Chart Linien zu basteln, die man als Ziel sehen könnte, ist daher nicht zielführend, sondern, wie man im Fachjargon sagt, „Bauernmalerei“. Kursziele können nur Chartmarken sein, die alle sehen und die rational betrachtet imstande sein könnten, Käufe oder Verkäufe auszulösen, weil man sie als starken Support oder als wichtige Hürde einordnet. Dabei lassen sich drei grundlegende Typen unterscheiden:
Zum einen „horizontale“ Ziele, die durch vorherige, markante Wendepunkte im Chart definiert wurden. Dann Trendlinien, die sich im Zeitablauf vom Kurslevel her bewegen. Und zuletzt psychologische Kursziele, in der Regel runde Marken, die meist keinen direkten Bezug zum Kursverlauf haben. Gehen wir das mal der Reihe nach durch.
Markante Wendepunkte als Ziel – warum kann das funktionieren?
Ein ganz bekanntes und die Sache gut erklärendes Beispiel war das Rekordhoch des Jahres 2000 im DAX. Dorthin lief der Index wieder im Jahr 2007, versuchte zweimal durchzukommen und drehte am Ende doch ab. Es dauerte dann bis zum Jahr 2013, diesen Widerstand zu durchbrechen. Sicher, dass der DAX 2008 scharf nach unten drehte, hing auch mit dem Platzen der Subprime-Blase zusammen. Aber man hatte die diesbezüglichen Warnsignale ja auch 2006 und 2007 fröhlich in den Wind geschossen, daher hätte der DAX dort durchkommen können … wäre dieses 2000er-Hoch nicht für viele Anleger nicht einfach eine Etappe auf dem Weg zu noch höheren Kursen, sondern ein Kursziel gewesen.
Wenn man sich hinstellt und einen solchen Level zum Kursziel erklärt, damit also die Erwartung verknüpft, dass der Kurs dort dreht, muss man aber begründen können, warum Anleger so denken und handeln könnten. In diesem Fall war das machbar, denn:
An diesem alten Hoch des Jahres 2000 war auch der damalige Internet-Hype am Hoch angekommen. Sehr viele hatten in diesem Bereich gekauft, seien es Fonds-Produkte, seien es Aktien. Jahrelang sassen diese vielen Akteure mit Verlusten da. Und jetzt, endlich, hatte man 2007/2008 in etwa seinen Einstandskurs wieder. Und zugleich warnten damals ja schon nicht wenige, dass der DAX überbewertet sei und das Platzen der nächsten Blase, in diesem Fall war es die Subprime-Blase, bösen enden würde. Damit ist völlig verständlich, dass sehr viele dann 2007/2008 auf dem Level des alten Hochs verkauften und damit so viel Abgabedruck aufkam, dass die Käufer da nicht durchkamen. Und auch ein zweiter Aspekt griff damals und machte aus einem charttechnischen Wendepunkt ein Kursziel:
Viele erfahrene Trader erkannten ja diese Situation. Und die sahen diesen Level um 8.150 DAX-Punkte als perfektes Niveau an, um Short-Positionen aufzubauen. Auch das führte dazu, dass dieses alte Hoch nicht zur Etappe der Bullen, sondern zum Ende des Weges wurde.
Fazit zu dieser Variante: Wichtige Wendemarken im Chartbild können tatsächlich nicht nur ein kurzfristiges Ziel sein, das dann schnell durch ein höheres (oder in der Baisse ein tieferes) Ziel ersetzt und damit zur Etappe wird. Aber in der Regel nur dann, wenn es Gründe gibt, warum es an einem solchen Punkt zu höherem Abgabedruck kommen wird, der voraussichtlich nicht ohne weiteres weggekauft werden kann. Ein vergleichbares Beispiel, hier mit einer Einzelaktie, sehen Sie hier:
Trendlinien als Leitstrahl … und als Kursziel
Bei Auf- und Abwärtstrendlinien und, falls sie sich dabei herausbilden, den entsprechenden Trendkanälen liegt die Sache anders. Hier sind es die charttechnisch orientierten Trader, durch deren Aktivitäten solche Marken zum Ziel und damit zum Wendepunkt werden können. Das gilt übrigens auch für Seitwärts-Kanäle, wenngleich seltener.
Sieht ein Trader, dass sich ein Kurs innerhalb eines Trendkanals einer Begrenzung nähert, ist das ein Signal, um von Long auf Short oder von Short auf Long zu drehen, sofern nicht allzu viel dagegen spricht, dass der Kurs diesen Trendkanal ausgerechnet jetzt bzw. in nächster Zeit verlassen könnte. Hier ein typisches Beispiel … wobei wieder die Allianz-Aktie ein lehrbuchgerechtes Vorbild stellt, hier aber in einem kurzfristigen Zeitraster der letzten zwölf Monate:
Hier werden die Trendlinien also aus reinen Trading-Aspekten zu Kurszielen, in deren Nähe man seine Position dreht. Dabei sollte man, wie auch hier im Fall der Allianz gegeben, immer schauen, ob nicht weitere Chartmarken auf das Kursverhalten einwirken, wie beispielsweise in diesem Fall der innerhalb des mittelfristigen Trendkanals entstandene kürzerfristige Kanal, der im Bild gestrichelt markiert ist.
Wir sehen hier eine Art Pingpong zwischen den Chartlinien, was einem typischen Trader-Verhalten entspricht, zumal das Handeln eines Trends bzw. eines Trendkanals den Vorteil bietet, dass man gezielt enge Stoppkurse setzen kann. So wurden Trader, die im Februar bei der Allianz konform zum Test der oberen Trendlinie des Kanals von Long auf Short gedreht hatten, mit sehr überschaubarem Verlust ausgestoppt, als die Aktie zuletzt den Kanal nach oben durchbrach.
Übrigens können auch gleitende Durchschnitte, vor allem die wichtige 200-Tage-Linie, die Funktion einer Trendlinie und damit eines als Kursziel fungierenden Supports bzw. Widerstands übernehmen, wie im folgenden Beispiel zu sehen:
Hier sehen wir, dass bei der VISA-Aktie im Vorjahr die 200-Tage-Linie wie eine Aufwärtstrendlinie „funktionierte“. Wurde sie touchiert, kamen Käufe auf und hielten den Aufwärtstrend dadurch am Leben. Dabei sieht man, dass der Kurs nie völlig präzise an dieser Linie drehte, was indes normal ist, denn Anleger reagieren ja nicht wie Maschinen. Da wird mal gezögert, mal vorgegriffen … und erst die Summe solcher emotional eingefärbten Beurteilungen von potenziellen Kurszielen und die Reaktionen darauf ergeben das Chartbild. Was zu einer Frage führt, die man nicht aussen vor lassen sollte: Wie verhält man sich, wenn die Kurse ganz nahe am Ziel sind?
Was tun, wenn die Kurse ganz nahe am Ziel sind?
Wenn man Kursziele in sein eigenes Handeln integriert, muss man sich eine Frage stellen: Wer kauft denn noch unmittelbar an einem oberen Kursziel oder steigt aus, wenn ein unteres Kursziel erreicht ist?
Wenn es sich um ein markantes Ziel handelt, wohl kaum jemand … es sei denn, es gäbe genug Anleger, die sicher sind, dass man den Kurs an diesem Ziel vorbei bekommen könnte. Daher kommt es recht oft vor, dass ein Kurs noch vor einem potenziellen Kursziel auf der Oberseite nach unten oder einem Kursziel auf der Unterseite nach oben dreht: Weil viele Trader davon ausgehen, dass der Kurs diesen Punkt sowieso nicht ganz erreicht und daher etwas vorher ihre Position drehen. Was natürlich dann zu einer „self fulfilling prophecy“ wird, denn wenn genug so agieren, erreicht der Kurs das Ziel ja gerade deswegen nicht. Ist es sinnvoll, es genauso zu machen?
Ich tendiere zu einem „ja“, denn Kursziele sind keine auf den Cent oder Punkt genau anzulaufenden Punkte, sie sind, gerade weil hier Menschen und nicht Maschinen agieren, Richtpunkte. Und es gibt nicht umsonst die alte Börsenregel, dass der Versuch, die allerletzten paar Punkte bei einer Hausse oder Baisse mitnehmen zu wollen, einem Trader am Ende teuer zu stehen kommen.
Runde Marken: Oft „Magnet“, eher selten „Ziel“
Die Börsenlegende Jessie Livermore hat bereits vor einem Jahrhundert runde Marken in ihrer Funktion als potenzielles Kursziel hervorgehoben. Aber wenn man seine Ausführungen liest und mit eigenen Erfahrungen vergleicht, dürfte man zum selben Schluss kommen wie er:
Sie können wie Kursziele funktionieren, sind aber eigentlich mehr ein „Magnet“ für die Trader und Basis medialen Webe-Getrommels für die ewige Hausse als ein nutzbares Tool. Wobei wir da nur von runden Marken auf der Oberseite reden. Auf der Unterseite funktionieren sie als Support selten.
Wenn „runde Marken“ als Kursziele taugen würden, würde das vorstehend gezeigte Chartbild des Dow Jones auf Monatsbasis anders aussehen. Manchmal reagierten die Kurse an runden Marken, das hatte aber immer nur kurzfristige Wirkung und war selten genug, um damit als Trader arbeiten zu können. Für Entscheidungen, ob man kaufen, verkaufen oder ggf. Short gehen sollte, sind diese „big figures“ meines Erachtens nicht zu gebrauchen.
Charttechnische Kursziele sind ein gutes Trading-Instrument, aber keine exakte Wissenschaft
Ob Kursziele sich am Ende als Etappen zum nächsten, neuen Kursziel erweisen oder wirklich zum Ziel und damit zum Wendepunkt werden, ist zwar nie sicher absehbar, denn an der Börse können immer Ereignisse auftauchen, die vorher zu vermutende Entwicklungen auf den Kopf stellen. Aber wenn man den Gedanken, dass Punkt X oder Y als Ziel- und Wendepunkt fungieren könnten, mit Argumenten unterfüttern kann, ist es durchaus sinnvoll, entsprechend zu handeln. Nur muss man eben immer im Hinterkopf behalten, dass an der Börse nie etwas „sicher“ ist … aber damit erzähle ich Ihnen ja nichts Neues.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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