Es scheint, immens viele Marktteilnehmer warten mit Spannung auf den Mittwochabend, wenn die US-Notenbank ihre Zinsentscheidung bekanntgeben wird. Aber wieso eigentlich? Zum einen ist mittlerweile hochwahrscheinlich, dass es zu einer Zinssenkung kommen wird. Zum anderen sind die Gründe dafür jedermann bekannt. Und vor allem: Was glaubt man denn, was eine Leitzinssenkung an der Gesamtsituation ändern würde?
Die US-Inflation ist mit 2,9 Prozent immer noch zu hoch. Aber immerhin ist der grosse Sprung als Folge der hohen Einfuhrzölle ausgeblieben. Bis jetzt zumindest, denn klar muss sein: Das wirkt mit Zeitverzögerung. Und wie gross die ausfällt, sprich ab wann wirklich nichts mehr zu befürchten wäre, ist schlicht nicht vorhersagbar. Daher hätte die US-Notenbank gute Gründe, den nach bislang nur zwei Senkungen um je 0,5 Prozent immer noch restriktiven Zinslevel nicht zu verändern. Wenn da nicht der Arbeitsmarkt wäre.
Der US-Arbeitsmarkt zwingt die „Fed“ zum Handeln
Die übliche Revision bisher gemeldeter Daten zu den neu geschaffenen Arbeitsplätzen ergab diesmal eine herbe Korrektur: Etwa die Hälfte der zwischen April 2024 und März 2025 gemeldeten, neuen Jobs gibt es gar nicht – über 900.000 gemeldete Stellen wurden im Licht genauerer Daten jetzt wieder aus der Statistik gestrichen. Ein weiterer Stein im Brett meiner über Jahre gebetsmühlenartig wiederholten Warnung, diese US-Arbeitsmarktdaten zu hoch zu hängen: Weil sie einfach aufgrund der Systematik ihrer Erhebung zum Niederknien ungenau sind.
Die Daten für Juli und August wahren ohnehin schwach, der Challenger-Report deutet einen steigenden Stellenabbau an und die am Donnerstag vorgelegten, die vorangegangene Kalenderwoche beleuchtenden Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe lagen unerwartet hoch, zuletzt hatte man eine solche Zahl von 263.000 Erstanträgen in einer Woche Anfang 2022 gesehen. Und das wiegt schwerer als eine Inflation, die zwar noch zu hoch ist und wieder steigen könnte, aber eben nicht muss. Mit dem Arbeitsmarkt hat die „Fed“, sprich die US-Notenbank, ein eindeutig aktuelleres Problem.
Das Haarige an der Sache ist das Problem des „Time Lags“. Nicht nur wirken die Zölle mit Zeitverzögerung auf die Preise, Veränderungen der Rahmenbedingungen wirken auch erst mit grosser Zeitverzögerung auf den Arbeitsmarkt, denn Unternehmen treffen nennenswerte Personalentscheidungen erst, wenn sie absehen können, ob eine Entwicklung zum Positiven oder Negativen von Dauer ist. Das zieht sich, das „Feuern“ oder „Anheuern“ von Personal dann auch noch einmal. Da können zwischen der Ursache in der Konjunktur und der Wirkung am Arbeitsmarkt ein bis zwei Quartale liegen. Was auch bedeutet: Was aktuell in der Konjunktur passiert, wird erst im Winter oder Frühjahr in den Arbeitsmarktdaten sichtbar, sofern die dann genau genug wären, um egal was aufzuzeigen. Die „Fed“ müsste also Hellsehen können, um sicher sein zu können, dass sie im Hier und Jetzt etwas tut, das sich in ein oder zwei Quartalen dann als richtig erweist.
Am US-Anleihemarkt bleibt man skeptisch
Bei der US-Notenbank ist man sich dieser Problematik natürlich bewusst. Und auch am US-Anleihemarkt weiss man das, weshalb die Renditen der US-Staatsanleihen derzeit nicht, wie man es eigentlich angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass die „Fed“ ihre Leitzinssenkungen wieder aufnimmt erwarten könnte, deutlich sinken. Man ist skeptisch und vorsichtig, weil in dieser unklaren Zukunft zwei Elemente die Zinspolitik beeinflussen werden: die Inflation und der Arbeitsmarkt. Und zögen die Preise doch noch kräftiger an, müsste die „Fed“ die Zinssenkungen sofort wieder stoppen, im schlimmsten Fall sogar zurücknehmen. Kein Wunder, dass man bei den Bond-Händlern Skepsis sieht, die sich in nur zögerlich nachgebenden Anleihe-Renditen niederschlägt.

Am US-Aktienmarkt hingegen laufen die Kurse von einem Rekord zum nächsten. Nicht unbedingt rasant, aber doch verblüffend stetig. „Zinssenkungen sind immer bullisch“, diese Faustregel wird zum Mantra vieler Anleger. Aber damit liegt man normalerweise eher schief, zumindest, was die Konjunktur angeht. Und das ist auch durchaus logisch, denn:
Veränderungen beim Leitzins wirken nie sofort … und manchmal sogar gar nicht
Sinkende Zinsen sollen Probleme lösen helfen, aber das funktioniert nie sofort und manchmal auch gar nicht. Dass das Wachstum gemeinhin nicht einfach aus dem Stand davonzieht, kaum dass die Leitzinsen gesenkt werden, zeigt die folgende Grafik, die US-Leitzins und US-Wachstum über die letzten 30 Jahre abbildet.

Da sehen wir, dass die US-Notenbank den Leitzins gemeinhin dann gesenkt hat, wenn das Wachstum stark nachgelassen hatte. Was es auch derzeit mit einer Jahresveränderung von 2,0 Prozent auf Basis der neuesten, das zweite Quartal beleuchtenden Daten tut. D. h. man versucht, ein negatives Gesamtumfeld durch günstigere Zinsen zu stützen, im Idealfall ins Positive zu verkehren. Doch damit das auch gelingt, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein.
Erstens müssten Kredite für Verbraucher und Unternehmen wirklich spürbar billiger geworden sein und man vermuten dürfen, dass es allzu viel billiger nicht mehr wird. Erst dann würden niedrigere Kreditkosten die Investitionen und den Konsum nennenswert befeuern können. Denn wer würde bei einer Zinssenkung um ein halbes Prozent, die kaum mehr als zehn Prozent des Leitzinses ausmacht, sofort grössere Summen aufnehmen, um zu investieren oder grössere Anschaffungen vorzunehmen, wenn beim Zins noch Luft nach unten bleibt? Nein, man pflegt zu warten, bis es wirklich billiger ist. Daher sehen wir in der Grafik oben und in mehreren Fällen auch beim Vergleichschart für die Eurozone, dass das Wachstum erst wieder Fahrt aufnahm, als die Zinsen nahe ihrem Tief waren. Die beiden unten zu sehenden Ausnahmen heben diese Grundregel keineswegs auf. Und zweitens?

Zweitens helfen auch niedrigere Leitzinsen und günstiger gewordene Zinssätze für Immobilien- und Ratenkredite nichts, wenn diejenigen, die investieren oder konsumieren sollen, Zweifel haben, dass das Gesamtumfeld für solche Kredite geeignet ist. Wenn man fürchten muss, dass die Gesamtsituation trotzdem eher schlechter als besser wird, wird man diese potenzielle Stütze für das Wachstum nicht nutzen und im Gegenteil lieber zusehen, bestehende Verbindlichkeiten abzubauen, um im Fall einer Verschärfung der Lage weniger verwundbar zu sein.
Und wenn wir uns ansehen, wie sich die Lage in den USA derzeit darstellt … und wie schwach Einkaufsmanagerindizes oder Verbrauchervertrauen derzeit sind … dürften nicht gerade wenige jetzt eher vorsichtig agieren. Da müsste der Leitzins schon wieder in Richtung „Nullzinspolitik“ laufen, damit wirklich viele ihre Bedenken fallen lassen.
Risiken zu ignorieren geht meist dramatisch schief. Aber bis es soweit ist … geht es eben gut!
Dass es zahlreiche Gründe gibt, warum man sich aufs Glatteis begeben würde, wenn man die vermutliche Wiederaufnahme der Leitzinssenkungen am Mittwoch als Allheilmittel und „Booster“ für immer neue Aktienmarkt-Rekorde ansehen wollte, kann man kaum übersehen … es sei denn, man will es. Aber wir wissen ja: Anleger sehen eigentlich immer nur das, was sie sehen wollen. Immerhin reden wir hier von Menschen … und warum sollten sich die als Anleger anders verhalten als im normalen Leben!
Was man momentan offenbar mehrheitlich ignoriert, ist u.a. die teure Bewertung der meisten US-Indizes. Und dass sie deswegen so teuer sind, weil viele Akteure zwar diejenigen Branchen meiden, die zeigen, dass mit der US-Konjunktur derzeit einiges nicht stimmt. So z. B. scheint auch kaum jemand die eigentlich bekannte Warnfunktion einer negativen Divergenz des Dow Jones Transportation-Index zum Gesamtmarkt sehen zu wollen. Die Logistik- und Beförderungsunternehmen laufen nicht gut, was klar macht, dass das Wachstum auf tönernen Füssen steht. Und nicht nur das:

Ein nicht unwesentlicher Teil des zuletzt eher überschaubaren Wachstums der Gesamtwirtschaftsleistung basiert auf massiven Investitionen von Unternehmen in den Bereich KI, wobei das auf Dauer nur dann gutgeht, wenn man die KI in der Breite „monetarisieren“ kann, indem man sie Leuten z.B. als Abonnements verkauft, die sich schon heute kaum noch etwas leisten können. Das ist schon ziemlich gewagt, das alles.
Ist die Hausse der US-Indizes also ein Tanz auf dem Vulkan und der Glaube, eine Leitzinssenkung würde alles richten, eine Schimäre? Auf jeden Fall. Aber heisst das, dass eine Baisse, vielleicht gar ein Crash, unmittelbar vor der Tür steht? Nein.
Denn es sind ja nicht die wirtschaftlichen Fakten, die die Kurse leiten und Trends aufrechterhalten, sondern die Anleger. Und solange die weiterhin glauben wollen, was ihnen ins Konzept passt und alles andere ausblenden, wird weiter Geld in den Markt fliessen und ihn so stützen, im Idealfall höher tragen.
Der „Tag X“, an dem zu viele auf einmal aussteigen und kippende Kurse die rosa Brille von den Nasen der Blauäugigen stossen, wird zwar kommen. Aber bis zu diesem Tag bleibt die Hausse eben erhalten und Short die deutlich riskantere Seite. Wichtig ist nur eines:
Im Gegensatz zu einer offenbar sukzessiv wachsenden Zahl an Anlegern muss man sich darüber im Klaren sein, dass es eine ewige Hausse nicht gibt. Wer das weiss, ist gewappnet. Und wer gewappnet ist, muss nicht einmal einen „Sudden Death“ der Hausse fürchten. Vernünftige, sukzessiv nachgezogene, sprich „gepflegte“ Absicherungen über Stop Loss-Verkaufsorders nehmen einem keine Gewinne … aber sie helfen, Verluste zu reduzieren oder gar zu vermeiden, wenn es unverhofft ruppig wird.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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