Dass der Aktienmarkt eher selten ein taugliches Spiegelbild der wirtschaftlichen Realität ist, wissen viele, aber längst nicht alle. Aber selbst, wenn das allen klar wäre, würde sich kein Gleichlauf von Fakten und Kursen einstellen. Weil die, die die Kurse „machen“, nun einmal Menschen sind. Ein kleiner Ausflug in die Denkweise der vielzitierten „Herde“ im Zyklus der Börsentrends.
Wenn man sich wie ich tagtäglich mit Nachrichten, Konjunkturdaten und Bilanzen befasst und das mit dem abgleicht, was am Aktienmarkt passiert, kommt man regelmässig zu ein und demselben Ergebnis: Die spinnen, die Trader.
Aber würde man an diesem Punkt aufhören und einfach festhalten, dass das Kursgeschehen unlogisch ist, hätte man letztlich nichts verstanden. Denn hinter all der Irrationalität steckt durchaus eine Art Systematik. Eine, die sich zu wiederholen pflegt und deswegen hilft, zu verstehen, was passiert. Und nur, wer weiss, warum etwas passiert, kann damit umgehen, statt unterzugehen.
Die Zyklen der Börse, übersetzt in die Denkweise der „Masse“
Nicht alle denken immer das gleiche, völlig klar. Aber das ist auch nicht entscheidend. Für die Trendrichtung ist relevant, was die Mehrheit der Anleger denkt und tut. Und da gibt es, bei aller Individualität des Einzelnen, eben doch Strömungen, die denen einer „Herde“ gleichkommen.
Da ein kompletter Börsenzyklus vom Tief zum Hoch zurück zum nächsten Tief führt und der letzte, komplette, grosse Zyklus auf mittel- bis langfristiger Ebene schon ein Weilchen zurückliegt, nutze ich diesen letzten grossen „Umlauf“ der Jahre 2003 bis 2009, um im Folgenden die einzelnen Phasen zu beschreiben, indem ich nicht mit „Boom“ oder „Baisse“, sondern mit den Begriffen arbeite, die das vorherrschende Denken der Akteure beschreiben sollen.
Letztlich bewegt sich die Marktstimmung immer zwischen Skepsis, völliger Sicherheit über eine Situation und der Verweigerung, deren Veränderung zu akzeptieren, hin und her. Wie lief das 2003-2009 konkret ab?
Der Zyklus 2003 bis 2009 – ein perfektes Beispiel
Nachdem der komplette Zyklus 1998 bis Anfang 2003 beendet war und viele am Tief der Baisse allgemeine Resignation und Wut auf diese bösartige Börse empfanden, begegnete man der 2003 aufkommenden Aufwärtsbewegung zunächst mit einem „na, ich weiss nicht recht“, gepaart mit einem „das geht ja sowieso wieder schief“. 2004 passierte beim DAX, den wir im folgenden Chart als Beispiel nutzen, nahezu gar nichts. Als die Kurse dann aber 2005 ansprangen, war schon genug Zeit seit der letzten, persönlichen Bauchlandung vergangen und der Index weit genug vom alten Tief entfernt, dass die ersten sich sagten: Da sollte, ja muss man doch dabei sein! Es folgte zwar ein heftiger Schreckmoment durch den kurzzeitigen Einbruch 2006. Aber als der schnell aufgeholt wurde, sah die „Herde“ das als Beweis dafür, dass das Geld wieder auf der Strasse liegt und legte so richtig los: „All in“, rein mit allem, was da ist. Und dann war das Hoch erreicht. Was aber damals natürlich noch niemand wissen könnte.

Diese Phase 2007 war besonders interessant. Denn natürlich begann man sich zu wundern, warum da nichts mehr vorangeht. Und wer es wissen wollte, konnte da längst wissen, dass der US-Immobilienmarkt eine Blase gebildet hatte, die zu platzen drohte bzw. im weiteren Verlauf 2007 schon massive Risse bekam. Die einen nahmen ihre Gewinne mit, weil ihnen die Sache zu heiss wurde, die anderen kauften in jeden Rücksetzer, weil sie die Fakten einfach nicht sehen wollten. Das Ergebnis war ein hektisches Auf und Ab ohne Raumgewinn.
2008 aber war dann auf einmal nur noch „Ab“ angesagt. Sehr viele, und das ist an diesem Zeitpunkt des Zyklus immer dasselbe, wollten sich mit einem Ende der schönen Hausse aber nicht abfinden und sperrten ihre Wahrnehmung konsequent für „bad news“. Und nach einem ersten Abwärtsimpuls gelang denen, die alles nur als Rücksetzer vor dem nächsten Rekordhoch ansehen wollten, auch eine Gegenoffensive, die sie in ihrem „nein, meine Fakten seh‘ ich nicht“-Denken bestätigte. Das indes hielt nicht, wie wir im Chart sehen. Und wie meistens, wenn einem das Kartenhaus einer eingebildeten, weil auf die eigenen Wünsche zurechtgebogenen Realität zusammenbricht, schlug die Stimmung der „Herde“ dann sehr abrupt und extrem um. Da wird man dann nicht besonnen und vorsichtig, sondern die Angst lenkt die Entscheidungen … bis hin zu blanker Panik.
Am Ende steht die Wut auf die Börse, die (man selbst ja nie) an allen Verlusten schuld ist und ein „nie wieder“. Bis der Zyklus von vorne beginnt. Wobei die, die die meisten und grössten Fehler begangen haben, dann auch am längsten misstrauisch bleiben und deshalb auch beim nächsten Mal erst wieder anfangen zu kaufen, wenn die besonnenen, fachkundigen Anleger bereits über den Ausstieg nachdenken.
Wo stehen wir an der Börse aktuell?
Diese Zyklen in ein Zeitraster pressen zu wollen, halte ich persönlich nicht für zielführend. Das Denken und Handeln der Menschen verändert sich zwar, aber das läuft nicht nach dem Kalender ab. Ebenso wenig liesse sich eine Grössenordnung für Hausse und Baisse in Prozent vorhersagen. Es gab kürzere und kleinere Zyklen, ich denke da an Herbst 2014 bis Frühjahr 2016 oder an Frühjahr 2020 bis Herbst 2022. Und die waren auch nicht so gewaltig dimensioniert. So gesehen wäre es absurd, sich zu fragen: Wenn es jetzt abwärts geht, wo und wann wird dann das Tief auftauchen?
Es geht weder bei einer Aufwärts- noch bei einer Abwärtswende darum, wie weit die am Ende führen wird. Es geht einzig und allein darum, die Wende zu realisieren und sich dafür von irgendwelchen kleinen Männern im Ohr, die einem auf emotionaler Ebene Unvernünftiges raten, zu befreien. Diejenigen, die Probleme haben, sich von einer eingefahrenen Meinung zu lösen, werden in den darauffolgenden Phasen die Verlierer sein. Zu lange Skepsis wegen eigener Fehler nebst Bauchlandung in der Phase zuvor bei einer Aufwärtswende: nicht gut. Zu lange festhalten an dem eigenen Wunsch, die Kurse seien eine Einbahnstrasse zu immer neuen Rekorden: auch nicht gut.

Momentan würde ich meinen, bewegen wir uns irgendwo am Ende oder kurz nach der „Warum geht da nichts“-Phase am Übergang zur „Nein, ich will das nicht“-Zone. Zu der Phase also, in der ein grosser Anteil an Marktteilnehmern sich mit Zähnen und Klauen dagegen wehrt, kritische Rahmenbedingungen und bärische Signale im Chartbild zur Kenntnis zu nehmen und weiter so agiert, als wäre jeder Rücksetzer eine Kaufgelegenheit, wie es bei einer noch intakten Hausse der Fall wäre.
Wie lange diese Phase der Verweigerung andauern wird, ist, wie gesagt, nicht vorhersagbar. Aber von erfolgversprechend wirkenden Gegenbewegungen, die in solchen Phase oft auftauchen, abgesehen, geht es letzten Endes eben unweigerlich in die nächste Phase des Zyklus über: in den Teil, in dem die Kurse kräftig unter Druck stehen, in dem das vorherige Suppenkasper-Verhalten gegenüber den Fakten in Angst umschlägt.
Individuelle Zyklen in einzelnen Aktien & Branchen
Ein Aspekt, den man im Hinterkopf haben sollte: Keineswegs alle Aktien bewegen sich mit dem „Mainstream“ des Gesamtmarkts. Hier finden sich immer auch individuelle Zyklen, die zwar oft den Zyklus-Strukturen des Gesamtmarkts ähneln oder sogar gleichen, aber zeitversetzt sind. Als ein aktuelles Beispiel könnte die Nemetschek-Aktie dienen:

Sie gehörte zu den grossen Überfliegern des kurzen Zyklus zwischen Frühjahr 2020 und Herbst 2022. Aktien, die einen zwar, weil die ganze Hausse am Ende dahin war, enttäuscht haben, aber mit denen man schon richtig gut Geld verdienen konnte, stehen schnell wieder im Rampenlicht. Entsprechend überproportional stieg Nemetschek bis zum Sommer, hat dann aber die „warum geht es nicht weiter“ und „ich will die Fakten nicht“-Phasen ausgelassen. Ein Grund kann sein: Der drastische Abstieg des Jahres 2022 ist vielen noch so präsent, dass sie eine Aktie wie diese schneller fallenlassen als ihr Aktien-Portfolio in seiner Gesamtheit.
Ein anderes Beispiel für einen zum Gesamtmarkt abweichenden Zyklus-Verlauf wären „Fallen Angels“, die man gerade zu Hoffnungsträgern der Bullen macht, ein Beispiel hierfür wäre SMA Solar:

SMA Solar ist aus dem übergeordneten Zyklus des Aktienmarkts komplett ausgebrochen, als die Aktie ab Mitte 2023 dramatisch fiel, während der Gesamtmarkt weiter stieg. Damit hatten wir hier bereits ein Zyklus-Ende mit einer Total-Resignation Ende 2024/Anfang 2025 und die Basis für einen „Neuanfang“ ausserhalb der Gesamtmarkt-Trends. Es scheint, als seien wir hier bereits aus der „na, ich weiss nicht recht“-Phase in die „da muss man dabei sein“-Phase eingetreten. Es könnte gut sein, dass bullische Anleger hier eine Art „Ausgleichsventil“ für den wackliger werdenden Gesamtmarkt finden, an dem sie die (solange es läuft) so wohltuende Goldgräber-Stimmung ausleben können.
Fazit: Ein bisschen in die Köpfe schauen geht also doch
Kursimpulse basieren darauf, dass sich unter den aktiv handelnden Marktteilnehmern eine Mehrheit auf der Käufer- oder der Verkäufer-Seite findet. Wenn man sich überlegt, dass man selbst normalerweise durch eine längere Überlegungsphase oder durch unerwartete Nachrichten, die die eigene Sicht auf die Dinge verändern, zu einem Entschluss kommt, wird schnell klar: Man kann unmöglich vorhersagen, was die Masse der Akteure in einer Woche, einem Monat oder auch nur morgen Früh denken wird und ob und wie sie das dann in Orders umsetzt.
Aber löst man sich von diesem Wunsch, heute am Morgen wissen zu wollen, wo DAX, Dow & Co. am Abend schliessen werden und verlegt sich auf übergeordnete Zeitspannen, sieht das schon anders aus. Dieser Wechsel von einem vorherrschenden Gedanken zum nächsten vollzieht sich in beeindruckender Regelmässigkeit. Nie in genaue zeitliche und prozentuale Rahmen pressbar, das ist klar, aber:
Wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass es nicht funktionieren kann zu wissen, wo Tief und Hoch eines Zyklus liegen, um die dann punktgenau zu erwischen, versteht man schnell, dass es darauf eigentlich auch gar nicht ankommt. Entscheidend ist zu erkennen, wann der Boden für die eigene Depotausrichtung heiss wird, und man beginnen sollte, sein bisheriges Denken zu überprüfen. Das ist nichts, das an einem Tag erledigt sein muss. Wichtig ist nur, dass man weiss, dass ein steter Blick nach links und rechts zwingend erforderlich ist, will man nicht zu denen gehören, die am Ende eines Zyklus über die „böse Börse“ schimpfen.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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