Die vergangene Handelswoche war gespickt mit ernüchternden Daten und Ereignissen. Trotzdem legten die Aktienmärkte in Europa und den USA weiter zu. Dabei klemmt es in allen vier entscheidenden Bereichen, die eine Hausse normalerweise begleiten müssten. Das bullische Lager lebt von einem einzigen Joker, der sie im Spiel hält. Aber diese Karte ist ebenso mächtig wie riskant.
Das war mehrheitlich nicht gerade toll, was letzte Woche so alles über die Nachrichtenticker lief. In Sachen Zölle tat sich nichts, ein Telefonat des US-Präsidenten mit dem Xi Jinping brachte wenig – ausser dass China den US-Autobauern jetzt befristet wieder Zugang zu seltenen Erden ermöglicht. Anderen Branchen aber scheinbar nicht. Ein Telefonat Trumps mit Putin brachte keinen Fortschritt. Die Quartalsbilanz von Broadcom als wichtigem KI- und Halbleiterunternehmen sorgte für Abgaben bei der Aktie. Die Einkaufsmanagerindizes deuteten keine Belebung des Wachstums an. Hierzulande kamen enttäuschende Daten zu Industrieproduktion und Exporten im April. In den USA fielen die Arbeitsmarktdaten bestenfalls gemischt aus, denn leicht über den Prognosen liegende neue Arbeitsplätze standen einer grossen Abwärtskorrektur der neuen Jobs für März und April gegenüber, ausserdem stieg der durchschnittliche Stundenlohn stärker als erwartet.
Und dann, als Krönung einer eher miesen Woche, entzweiten sich Trump und Musk, wobei Tempo und Dimension der Eskalation des Streits wirtschaftliche, aber vor allem politische Folgen haben können. Aber die Aktienindizes, ob DAX oder Euro Stoxx 50, ob Dow Jones oder Nasdaq 100, legten trotzdem zu. Das wirkt, als würden sie sich in einer andren Welt bewegen. Und so ist es auch.

Der typische Weg vom vorsichtigen Versuch bis zum permanenten Anspruch
Vor 60, 70 Jahren war es etwas ganz Besonderes, im Ausland seinen Urlaub zu verbringen. Und wenn, dann war es Österreich oder Italien mit dem Käfer, nicht die Malediven mit dem Flieger. Doch aus dem Besondern wurde schnell etwas Normales. Immer mehr machten immer weitere und teurere Reisen. So wurde das über die Jahre hinweg zur Gewohnheit und heute für viele zu einem „Anspruch“.
Dieser Weg von einem ersten, noch vorsichtigen Test über die durch positive Eindrücke beförderte Gewöhnung hin zum Anspruch sehen wir auch an den Aktienmärkten. Je länger es gutgeht, desto mehr Anleger hoffen nicht auf Gewinne, sie erwarten sie. Viele haben eine echte Baisse nie erlebt. Und selbst wenn man darüber lesen, sprich sich das eigentlich unabdingbare Grundwissen eines Anlegers aneignen würde: Wenn man solche Phasen nicht selbst miterlebt hat, ist der Lern- und Warneffekt eher gering, das Hier und Heute wiegt schwerer. Und sie sehen es im Chart des S&P 500 über die letzten 40 Jahre:

2022 war zwar ein schwaches Jahr, aber es dauerte nicht lange, bis die Verluste aufgeholt waren. Die letzte Baisse, bei der es Jahre dauerte, bis man die alten Hochs überbot, reicht ins Jahr 2008 zurück. Lange genug her, um aus dem Bewusstsein zu rutschen oder dort gar nicht erst aufzutauchen. Heute sind steigende Kurse für viele keine erfreuliche Entwicklung in einem unsicheren Umfeld, sondern eine Selbstverständlichkeit.
Dabei führen fehlende Erfahrung, fehlendes Fachwissen und der mit Gewöhnung und Anspruch einhergehende Leichtsinn dazu, dass sehr vielen vermutlich nicht bewusst ist, dass sie hier gerade ein äusserst riskantes Spiel spielen, weil ihnen die vier Trümpfe, von denen man mindestens zwei oder drei für eine umfassende und ggf. risikoreichere, gehebelte Positionierung am Aktienmarkt in Händen halten sollte, allesamt fehlen.
Grand Hand ohne vier: Den Bullen fehlen derzeit alle Trümpfe
Es ist wie beim Skat. Ein „Grand“, bei dem nur die vier Buben als Trumpf fungieren, bringt, wenn man ihn gewinnt, mehr Punkte ein. Lässt man die zwei Karten, mit denen man Alternativen ins Spiel bringen könnte, liegen, bringt es noch mehr. Und hat man von den vier Trümpfen keinen einzigen selbst, wird ein Sieg umso mehr vergoldet. Das ist dann ein „Grand Hand ohne vier“ … ein grandioses Spiel, wenn man gewinnt. Fatal, wenn man es verliert. Und um so etwas zu gewinnen, sollte man als Spieler wirklich etwas draufhaben. Was sind diese vier „Trümpfe“, sprich die vier Faktoren, die man auf seiner Seite haben sollte, wenn man bullisch agiert?
1. Ein verlässliches, stabiles Umfeld. Politisch wie geopolitisch, in Bezug auf Investitionsanreize, Besteuerung und rechtliche Grundlagen. In einem solchen Umfeld kann die Wirtschaft prosperieren, was die Abwärtsrisiken für Investoren, insbesondere am Aktienmarkt, überschaubar hält. Haben wir das? Seit Donald Trumps Amtsantritt nicht mehr, Stichworte Zölle, Steuerpaket und Sozialpolitik.
2. Ein Aktienmarkt, der durch hohe Dividendenrenditen besticht, während die Alternative am Anleihemarkt nur mickrige Zinsen abwirft und Gold kein Kapital an- und damit vom Aktienmarkt abzieht. Auch da sitzen die Bullen am Aktienmarkt, vor allem an den US-Märkten, derzeit „blank“ da.

3. Eine positive Verbraucherstimmung. Eine Hausse am Aktienmarkt kann nur stabil sein, wenn nicht nur die Anleger, sondern alle einigermassen optimistisch sind. Nur dann würde durch ansteigenden Konsum Wachstum entstehen, das steigende Kurse am Aktienmarkt durch sukzessiv steigende Unternehmensgewinne unterfüttert. Doch ob hierzulande oder in den USA (siehe der folgende Chart):
Die Verbraucher sind skeptisch bis negativ gestimmt. Dass es im Mai mit dem einen Verbrauchervertrauens-Index der USA (der des Conference Board, hier im Bild) wieder aufwärts ging, ist noch nicht wegweisend. Erstens, weil wir solche Schwankungen in kritischen Phasen meistens sehen, siehe 2020 während Corona. Zweitens, weil der andere Index, der von der Uni Michigan ermittelt wird, nicht nennenswert stieg. Drittens, weil dort ebenso wie beim Verbrauchervertrauen des Conference Board eine ungewöhnlich hohe Inflationserwartung gemessen wurde. Wer sich auskennt ahnt, dass die zwar zum Vorquartal im Saldo niedrigeren, aber noch einigermassen robusten US-Unternehmensgewinne im ersten Quartal durch Vorkäufe wegen der Zölle und aus Sorge vor steigenden Preisen zustande kamen.

Und schliesslich 4. Ein marktbreiter Anstieg, der indiziert, dass nicht nur ein paar wenige US-Unternehmen die Hausse stützen, sondern die Breite des Aktienmarkts, weil die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit gut dasteht. Für Aktienindizes auf Rekordjagd ist das aber zu wenig, was wir derzeit da sehen. Am deutschen Aktienmarkt notieren derzeit 64 Prozent der Aktien über ihrer 200-Tage-Linie, das ist nicht unbedingt gut, aber auch noch nicht dramatisch wenig. Aber an der US-Börse sind es gerade einmal 51 Prozent, während S&P 500 und Nasdaq 100 bereits in Reichweite der bisherigen Rekorde notieren! Hier fehlt die nötige Marktbreite, was wir auch daran sehen, dass die Zahl neuer 52-Wochen-Hochs an der New York Stock Exchange mit ihren über 2.000 Aktien zum Ende der Vorwoche auffallend niedrig lag. Viel zu wenige Unternehmen tragen die Aufwärtsbewegung.

Der Joker sticht … aber er gehört eigentlich nicht zum Spiel
Aber wenn die Bullen an der Börse aktuell „ohne vier“ spielen, warum geht das dann nicht schief? Am Ende wird es das, nur kann niemand genau abschätzen, wann dieses „am Ende“ sein wird … und bis zu diesem „Tag X“ wird es weiter gutgehen, weil die Bullen ihren Joker in Händen halten: die eigene Unwissenheit
Die führt dazu, dass viele gar nicht ahnen, dass stetes Weiterkaufen mit steigenden, nicht gerade kleinen Risiken verbunden ist. Sie kennen die Regeln des Spiels ja gar nicht und spielen, wie kleine Kinder Skat spielen würden: Indem sie einfach irgendwelche Karten auf den Tisch werfen und schauen, was da dann wohl passiert. Aber warum ziehen ihre Gegenspieler ihnen dann nicht einfach den Teppich unter den Füssen weg?
Weil dieses Spiel nur dann Gegner hat, wenn die anderen Mitspieler Gegner sein wollen. Und solange es nicht zu brenzlig wird darf man sich fragen, warum sie das denn wollen sollten. Schliesslich verdient die Finanzbranche an stetig zufliessendem Sparergeld und an steigenden Kursen. Und auch die grossen Hedgefonds, die der Hausse jederzeit den Saft abdrehen könnten, bekommen ihren Mittelzufluss von meist ganz normalen Anlegern, die möchten, dass es einfach schön nach oben geht.
Der „Tag X“ wird also vermutlich erst dann kommen, wenn grosse Adressen, die flexibel agieren können, den Eindruck bekommen, dass jetzt etwas massiv abrennt. Dass sich eine Entwicklung abzeichnet, in der die Sparer sowieso nicht mehr so viel Geld wie zuvor an die Börse tragen werden und eine Abwärtsbewegung so sehr von negativen Faktoren im Bereich der Nachrichten begleitet wird, dass Gier, Ignoranz und Hoffnung nicht mehr so schnell und stark zurückkehren werden, um die Kurse sofort wieder nach oben zu ziehen, wie das im April der Fall war.
Man muss gar nicht erst versuchen zu orakeln, was das auslösen könnte und wann. Aber wenn man sich überlegt, dass aktuell am Aktienmarkt eine Belebung im zweiten Halbjahr eingepreist wurde, massgeblich befördert durch ein Ende der Zoll-Streitigkeiten … und bislang nichts dafür spricht … dass die Verbraucher weiterhin zurückhaltend agieren, China konsequent Gegenwehr leistet und das Zerwürfnis Trump/Musk noch für viele brisante Schlagzielen sorgen dürfte, bliebe als Fazit:
Dieser „Joker“ ist eine wacklige Sache. Denn er besteht daraus, dass zu viele Anleger nicht wirklich wissen, was sie tun und daher die Risiken nicht sehen. Ob 1929, 2000 oder 2008: Solche Phasen enden normalerweise irgendwann dadurch, dass diese Karte aus dem Spiel fliegt, in das sie eigentlich auch nicht gehört, denn „keine Ahnung“ ist nun einmal keine reguläre Trumpfkarte. Da dann zu viele die eigentlichen Spielregeln nicht kennen, sprich ihnen das Börsenwissen abgeht, endet so etwas immer unschön. Und da wird vorher nicht zum Ausstieg geklingelt, daher:
Long ist weiterhin die trendkonforme und damit grundsätzlich richtige Richtung. Aber agieren Sie unbedingt umso vorsichtiger, je leichtsinniger die anderen werden!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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